Corona in Lima, Peru

Ein Brief von Pfarrer Andreas Schultheis an seine Heimatgemeinde

Mit herzlichen Grüßen melde ich mich nach langer Zeit aus Lima, Perú in St. Nikolaus Münster, meiner Heimatgemeinde. Als ich heute morgen mit meinen Eltern sprach, sagten sie mir, dass regelmäßig Menschen aus der Pfarrgemeinde nach mir fragen, gerade auch in der jetzigen weltweiten Krise. In Deutschland und Europa normalisiert sich das Leben, in Perú bekommen wir die Seuche nicht in den Griff und es wird täglich schlimmer, in China beginnt gerade die zweite Welle.

Hiermit bitte ich die Gemeinde St. Nikolaus in Wolbeck um ihre Gebete für die Menschen in Perú und in meiner Gemeinde Nuestra Señora de la Cruz de Ate (Schmerzhafte Kreuzesmutter von Ate) im Osten am Rand von Lima. Zu wissen, da beten fremde Menschen für uns, ist eine große spirituelle Hilfe und ein guter Trost. Danke.   

Einige Daten zur aktuellen Situation, wie ich sie erlebe, habe ich aufgeschrieben; sie sind vielleicht für einige von Interesse. 

Seit dem 16. März sind wir im confinamiento, d.h. totale soziale Isolierung, Quarantäne. Von morgens 4 Uhr bis abends um 21 Uhr dürfen Menschen auf die Straße zum Einkaufen, zur Bank (glücklich, wer überhaupt ein Konto hat) und zum Arzt. Einige Industrien und Gewerbe sind wieder in Betrieb. Zeitweise war die Ausgangsperre länger, nur eine Person pro Familie durfte raus, abwechselnd 3 Tage die Männer, 3 Tage die Frauen. Seit 2 Wochen dürfen Kinder von 3 bis 14 Jahren in Begleitung einer erwachsenen Person für eine halbe Stunde raus, 500 Meter vom Haus entfernt, aber nicht auf Spielplätze, die verseucht sind. Diese Regel wurde für meinen Distrikt zurückgenommen, weil Ate als Hochrisikoregion eingestuft wurde. Sonntags gilt bis heute totale Ruhe, niemand ist draußen zu sehen, kein Auto zu hören, ab und zu ein Hundebesitzer, der mal mit seinem Tier vor die Tür muss. Der Flughafen steht nur den inländischen Versorgungslagen und dem Militär zur Verfügung.

Der aktuelle Stichtag für die cuarentena ist der 30.06. Aber gestern hat der Gesundheitsminister schon mal eine Verlaengerung in die Debatte geworfen, um die Bevölkerung vorzubereiten. Und der Gesundheitsnotstand gilt sowieso bis Mitte September, d.h. die Regierung darf in den privaten Sektor eingreifen, z. B. Sauerstoff beschlagnahmen, der nicht mehr in der freien Verkauf darf, sondern komplett den Krankenhäusern zur Verfügung gestellt werden muss. Ein anderes Beispiel: das größte Fußballstadion Südamerikas liegt in meiner Pfarrgemeinde, das Monumentalstadion “de la U”, kann auf Abruf zum Feldlazarett verwandelt werden. Und ein Hochhauskomplex wurde zum Block für Quarantäne bestimmt, die Firmen und einige Privatpersonen mussten raus.    

Ich bin seit dem 16.03. nicht mehr raus, bin sozusagen als Eremit in meinem Zimmer, 25 Minuten Fußweg von der Pfarrkirche entfernt (die z.Z. verwaist ist). Mein Zimmer liegt neben einer Pfarrkapelle, so dass ich täglich zu Christus im Allerheiligsten Sakrament gehen kann. Am ersten Sonntag bin ich zur Pfarrkirche gegangen, doch die patrouillierenden Polizisten und Soldaten haben mich zurückgepfiffen: Ich könnte doch hier in der Kapelle beten. Also gebe ich von nun an ein gutes Beispiel, damit niemand sagen kann: “Nicht einmal der Pfarrer gehorcht der Regierung und ihren Bestimmungen.” Geld- und Gefängnisstrafen werden angedroht, und als Ausländer kann das für mich im schlimmsten Fall die Ausweisung bedeuten. 

Doch die Menschen gehorchen nicht: die Wirklichkeit ist erschütternd. Die Zahlen der Neuinfizierten und Toten steigen immer noch täglich (nach 3 Monaten Quarantäne!!!), ein Stillstand und Zurückgehen ist nicht in Sicht, wohl erst nach Einsetzen eines Impfstoffes, den es ja noch nicht gibt. Und dann auch erst mal nicht bezahlt werden kann in Perú. Hoffentlich sehe ich die nahe Zukunft zu schwarz und sie belehrt mich eines Besseren…

Warum klappt das hier alles nicht? Die New York Times bietet heute 2 Erklärungen: Ungleichheit in der Bevölkerung und Korruption. Einige wenige Reiche, ein kleiner Mittelstand, in der großen Mehrheit viele Arme. Perú hat seit 20 Jahren eine relativ stabile Wirtschaft (die natürlich nur wenigen zugutekommt), aber nun in der Krise sind alle Reserven aufgebraucht, privat und national. Die Rückabwanderung beginnt. Eine Million Venezolaner sind hier als Migranten, sie bekommen aber jetzt gar keine Arbeit und finanzielle Hilfen mehr wie noch vor Kurzem, werden immer mehr diskriminiert und kehren zurück. Zwei Venezolanerinnen haben vor einigen Tagen, was dann über das Internet schnell mitgeteilt wurde, gesagt, dass die Indios hier in Perú keine Hygiene kennen, deswegen alle schmutzig sind und sich deshalb das Virus so rasend schnell verbreitet. Das ist eine rassistische und diskriminierende Aussage, die der Integration natürlich nicht förderlich ist. Im Gegenteil: nun werden die venezolanischen Migranten unter Generalverdacht gestellt und gehasst. Eine soziale Zeitbombe, die immer mehr Gewalt hervorruft. Gut, dass viele zurückkehren, das beruhigt die Situation. Aber ich weiß nicht, wie es ihnen in ihrer Heimat ergehen wird…   Ebenso gehen viele Peruaner aus Lima, dem Moloch, zurück in ihre Herkunftsprovinzen, in die Berge und das Amazonasgebiet. Lima blutet aus. Dazu die Korruption: Über 4200 Beamte haben z.B. Anträge auf caritative Hilfen gestellt, wobei sie sie gar nicht in Anspruch nehmen durften; aber Formulare kann man ja leicht manipulieren und falsche Angaben machen. Bürgermeister u.a. behalten die Spendengelder und -waren. Viele Hilfen verlieren sich in der Verwaltung und verschwinden. In Cuzco haben Firmen abgelaufene d.h. verdorbene Lebensmittel an bedürftige Leute verteilt.     

Hiermit bitte ich die Gemeinde St. Nikolaus in Wolbeck um ihre Gebete für die Menschen in Perú und in meiner Gemeinde Nuestra Señora de la Cruz de Ate (Schmerzhafte Kreuzesmutter von Ate) im Osten am Rand von Lima.

Pfarrer Andreas Schultheiß

Neben dieser sozialen Unterschiedlichkeit zwischen arm und reich und der Korruption, kommen für mich weitere Gruende dazu:                                                                                                                                                            * Der informelle Sektor: die meisten haben keine feste Arbeit, keine Arbeits- und Tarifverträge, es gibt keine Gewerkschaften, keine Sicherheit. Es wird der Tagesverdienst am gleichen Tag zum Essen und Leben aufgebraucht. Perus Städtebilder, wie in ganz Südamerika, sind gezeichnet von den unzähligen ambulanten Straßenverkäufern.  
* Das unzureichende Gesundheitssystem: ich habe bereits selber die negativen, aber auch gute Seiten leiden- und kennengelernt. Das bedeutet auch Krankenhäuser als Ansteckungszentren. Mittlerweile fehlt Oxygen, Sauerstoff für die Coronakranken, andere OPs werden nicht mehr durchgeführt, wer Geld hat wird behandelt, ohne Geld nicht.
* Das peruanische System von Banken und Märkten: es sind Sammelpunkte, zentral gelegen, so dass es unablässig zu Menschenansammlungen kommt.  Und genau die sollen jetzt vermieden werden. Soziale Distanz, Abstandhalten geht hier nicht.     
* Dazu kommt die Bauweise der Häuser: kleine Häuser, in denen viele Personen wohnen. Wo ein Zimmer frei ist, wird es an venezolanische Migranten oder Menschen aus der Provinz vermietet, die sich dann alle ein WC teilen. Außerdem sind die Wohnungen zum Schlafen da, das soziale Leben inklusive Essen und Fernsehgucken findet draußen auf der Straße statt. Kinder spielen, Jugendliche treffen sich zum Fussball und Volleyball, Senioren sitzen im Schatten: es gibt keine soziale Distanz. Selbst Mundschutz gibt es nicht genug.

Ein Problem ist der peruanische und lateinamerikanische Machismos. Männer behandeln die Frauen sehr schlecht, es gibt viel häusliche und sexuelle Gewalt. In den 3 Monaten der Quarantäne sind 557 Frauen verschwunden, ich vermute getötet oder “verkauft” an Bordelle und Nachtclubs, denn eine Mutter verlässt nicht einfach ihre Kinder, auch nicht bei Machismo – sie würde sie mitnehmen.

Unsere Bischöfe sagen nicht viel, weder als Bischofskonferenz, noch unser eigener Bischof. Am Anfang der Quarantäne ein Schreiben, dass die Messen ausfallen (bzw. man solle im Internet und TV gucken) und wir uns an die Regelungen der Regierung halten sollen, zum Schutz der Gläubigen. Das war ja noch ok. Und nun die Bedingungen für die Gottesdienste, wenn sie wieder erlaubt sind: Abstand, kein Singen, Desinfizieren der Bänke etc., alles fast wie in Deutschland. Nur ohne Anmeldung, und wir feiern die Messen draußen. Aber keine spirituellen Hilfen wie Hirtenbriefe. Auch für uns Priester nicht: wir hätten unsere jährlichen Exerzitien Ende Mai gehabt, da hätte der Bischof uns doch täglich oder einmalig geistliche Nahrung schreiben können. Nur als einer unserer Diözesanpriester am Coronavirus starb, Padre Nicolás, nur 50 Jahre alt, bekamen wir die Benachrichtigung. Er starb wenige Tage nach seiner Mutter, die ebenfalls dem Virus erlag.

Was mache ich selbst als Pfarrer? Wenn ich schon meinen Bischof kritisiere, dann muss ich mich selbst auch hinterfragen. Ich bin als Priester noch alleine in der Pfarrgemeinde mit mehr als 50.000 Gläubigen (bald hilft uns ein spanischer, älterer, nicht ganz gesunder Priester), die sich auf 5 Orte und Kapellen aufteilen. Normalerweise feiere ich 6 Sonntagsmessen, zusätzlich Taufen und Hochzeiten als Wortgottesdienste. Das fällt nun alles aus. Wir haben keine technischen Voraussetzungen für die Übertragung von Gottesdiensten. Außerdem: ich feiere nicht allein die Messe. “Wo zwei oder drei in meinen Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen…” Mein priesterlicher Dienst ist die Heiligung der Pfarrgemeinde im Stundengebet, das ich wie ein Mönch morgens, mittags, abends und zwischendurch bete. Dazu den täglichen Rosenkranz und die Anbetung von Christus im Sakrament. Sonntags schreibe ich die Predigt bzw. leicht verständliche Gedanken, und meine Sekretärin, Doña Pilar, versendet sie hundertfach an die Gemeindemitglieder, die sie ihrerseits weiterschicken. Sie geben mir ihre Gebetsanliegen, die ich dann in meine Gebete hineinnehme. So bin ich täglich bei Christus in der Eucharistie, für die ganze Pfarrgemeinde, Lebende und Tote. Der Bischof zelebriert die Hl. Messe im Seminar mit den Seminaristen für das Bistum, ich als Pfarrer bete und bete an für meine Pfarrgemeinde und segne sie täglich.                                                                                                                    
Und auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Arzt kommen Menschen bei mir vorbei, meine Türen stehen hinter den hier üblichen Gittern offen, sie rufen, ich höre ihnen zu, wir sprechen kurz, ich segne sie und kann sie offensichtlich ein bisschen trösten.   

Wie geht es nun weiter? Die Menschen müssen arbeiten, müssen raus. Geld verdienen. Menschsein ohne Gemeinschaft, ohne Umarmungen, ohne direkte Kontakte, geht nicht. Alltags- und Arbeitsleben ständig mit Maske und sozialer Distanz darf kein Dauerzustand bleiben. Jetzt kommt der Winter. Und der Regen im Gebirge (hier in Lima habe ich in meinen fast 4 Jahren keinen Regen mehr erlebt, da freue ich mich in Deutschland schon drauf). Mein geplanter Heimaturlaub im Juli und August ist gestrichen, verschoben auf 2021. Wir warten auf die letzte Juniwoche, dann wird die Regierung das weitere Vorgehen ankündigen: nach dem bisherigen 4-Stufen Plan sollen im Juli der nationale Reise-, also Bus- und Flugverkehr wieder aufgenommen werden, gegen Ende August dann der internationale Flugverkehr. Evtl. könnte ich dann im Oktober und November nach Deutschland kommen, je nach Lage in Perú und in Europa, wenn denn keine zweite Welle kommt. Ich will mich in Deutschland ja frei bewegen können und nicht 14 Tage dort und dann auch wieder hier bei der Einreise in Quarantäne. Außerdem: wenn das freie Leben und damit die Pastoral hier wieder möglich sind, kann ich als Pfarrer gar nicht weg. Also wohl erst, wie gesagt, 2021.   

Menschsein ohne Gemeinschaft, ohne Umarmungen, ohne direkte Kontakte, geht nicht.

Dankbar bin ich für viele Menschen, die sich solidarisch verhalten: füreinander einkaufen, sich bei Arztbesuchen helfen, ihre Geldreserven teilen, Familien bei der Organisation der Bestattung ihren Coronatoten unterstützen, Telefon- und Internetkontakte pflegen. Pastorale Gruppen und Katechesen werden über Zoom und Skype organisiert, in den Häusern und Familien wird mehr gebetet. Auch der Umgang miteinander wird menschlicher: bei den täglichen Streitigkeiten, die es natürlich gibt, versöhnen sich Familienmitglieder, Eheleute und Geschwister. Vorher konnte man sich mehr aus dem Weg gehen, jetzt in der Quarantäne nicht, da wird Vergebung wieder zu einer menschlichen Notwendigkeit und Grundkonstante. Menschen beginnen zu reflektieren: was will Gott uns mit der Krise sagen? Es kommt zur Einsicht, dass wir die Natur besser behandeln müssen, damit Viren und Zerstörung keine Chance bekommen. Ein neues Umweltbewusstsein, ein neues Sozialbewusstsein, ein neues Familienbewusstsein. Für Perú sind das neue Gedanken und Anstöße. Ich hoffe, dass in der Nachcororonazeit vieles besser wird; ich befürchte, dass es nicht so sein wird.        

Gott segne Perú. Gott segne México, wo ich vorher lange Jahre war. Gott segne Lateinamerika. Gott segne Euch in Deutschland und Europa.Parroquia Nuestra Señora de la Cruz

Gott segne seine Welt.

Andreas Schultheis.    

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